Aktuelles / Notizen

10.04.2013

Regierungsrat Christian Amsler und alt Nationalrat Ulrich Schlüer...


...kreuzen im Streitgespräch zum Lehrplan 21 die Klingen (NZZ).

Wenn Sie auf das Bild klicken geht es direkt zum entsprechenden PDF der Bildungsbeilage NZZ vom 10.4.2013. Das ganze Interview finden Sie unten aber auch als Text.

Die Volksschule zwischen Bildungsstandards und politischer Korrektheit 

Gesprächsführung: Claudia Wirz, Michael Schoenenberger 

Herr Amsler, warum braucht es einen einheitlichen Lehrplan für die ganze Deutschschweiz? 

Christian Amsler: Wir sind ein kleines Land mit grosser Mobilität. Unter solchen Umständen ist es widersinnig, wenn jeder Kanton einen eigenen Lehrplan definiert. Der Bildungsartikel, der im Jahr 2006 mit überwältigender Mehrheit angekommen wurde, verpflichtet uns zur Harmonisierung der Ziele der Volksschule. Mit dem Lehrplan 21 setzen wir diesen Auftrag um. 

Hatten die Stimmbürger tatsächlich einen einheitlichen Lehrplan im Kopf, als sie ein Ja zum Bildungsartikel einlegten, Herr Schlüer? 

Ulrich Schlüer: Das war sicher nicht das Hauptmotiv. Die Bevölkerung wird sich nicht zuletzt aufgrund der grassierenden «Reformitis» in der Volksschule zunehmend bewusst, dass die Schule hauptsächlich von den Lehrerpersönlichkeiten lebt und nicht von der administrativen Struktur. Gegen kantonsübergreifende Absprachen über die Bildungsziele haben wir überhaupt nichts einzuwenden. Aber der Lehrplan 21 geht viel weiter. Die deutschsprachige Erziehungsdirektorenkonferenz arbeitet geheimnistuerisch hinter verschlossenen Türen ohne parlamentarische Aufsicht. Aus einem Konsultativorgan ist ein Exekutivorgan geworden. 

Amsler: Der Vorwurf der Geheimnistuerei trifft nicht zu. Das Projekt ist sehr breit abgestützt. Die Grundlagen sind von Fachleuten – darunter über 40 Lehrerinnen und Lehrer – ausgearbeitet worden. Es wäre nicht klug, wenn Träger von Partikularinteressen, sprich Parteien, den Lehrplan bestimmen würden. 2009 ging das Projekt in eine breite Konsultation. Insgesamt sind so mehrere hundert Personen involviert. Ausserdem besteht die EDK aus vom Volk gewählten Regierungsräten. Ende Juni dieses Jahres werden wir den Lehrplan 21 der Öffentlichkeit vorstellen. Dann kann jeder und jede dazu Stellung nehmen. Am Schluss sind die Kantone zuständig für die Umsetzung. 

Die Tatsache, dass Hunderte von Fachpersonen involviert sind, ist kein Qualitätssiegel. Es könnte ein Behördenmonster geben. 

Amsler: Das ist nicht der Fall. Ich bin wie Herr Schlüer der Meinung, dass der Lehrer, die Lehrerin die Schlüsselperson in der Volksschule ist. Deshalb wird der Lehrplan 21 auch von Lehrern ausgearbeitet. Der Verband der Lehrerinnen und Lehrer (LCH) steht hinter dem Projekt und arbeitet im Projekt mit. 

Schlüer: Daran, dass am Lehrplan 21 viele Fachleute intensiv arbeiten, zweifle ich keinen Moment. Aber der Vorgang ist undemokratisch. Es ist ein geschlossener Kreis von Fachleuten – um nicht zu sagen von Funktionären und Bildungsideologen –, die über dem Projekt brüten und sich gegenseitig bestätigen. Die mehrfache Verschiebung der Vernehmlassung stimmt skeptisch. Unsere Skepsis teilen auch viele Lehrer. Die sogenannte Kompetenzorientierung, die dem Lehrplan 21 zugrunde liegt, wird von verschiedenen Exponenten diametral unterschiedlich definiert. 

Amsler: Ich staune über diese negative Grundhaltung. Der Lehrplan 21 ist ein bemerkenswertes Projekt, in dem 21 Kantone zusammenarbeiten. Es geht nicht um eine Schulreform, sondern um die Definition von gemeinsamen Bildungszielen in der Volksschule. Ein solches Vorhaben braucht Zeit. Das öffentliche Interesse am Lehrplan 21 ist tatsächlich sehr gross. In der Vernehmlassung von Juli bis Dezember werden alle Interessierten Stellung nehmen können. 

Schlüer: Was heisst negative Grundhaltung? Nach der ersten Konsultationsrunde 2009 haben wir im Oktober 2010 einen eigenen Entwurf vorgelegt, dies, weil die EDK auf ebendiesen Zeitpunkt die Vernehmlassung zu ihrem Lehrplan angekündigt hatte, auf die wir bis heute warten. Unser Vorschlag beschränkt sich auf das in der Schweiz Mögliche. Die Ziele soll man durchaus vereinheitlichen, aber den Weg zum Ziel nicht. Den Einheitsschüler gibt es genauso wenig wie die Einheitsklasse. Der Lehrer entscheidet, wie er mit seiner Klasse ans Ziel kommt, nicht ein Stoffvermittlungsfunktionär. 

Stört es Sie als ehemaligen Prorektor einer pädagogischen Hochschule nicht, dass das Unterrichten vereinheitlicht werden soll, Herr Amsler? 

Amsler: Ich muss Herrn Schlüer vehement widersprechen. Der Lehrplan 21 ist kein Leitfaden für den Unterricht. Die Ziele werden definiert, die Methoden sind und bleiben frei. 

Die Bildungsziele werden aber äusserst detailliert beschrieben. 

Amsler: Damit sind sie klar und somit messbar. So kann der kompetenzorientierte Unterricht funktionieren. Die Version, auf die Sie sich jetzt beziehen, war ein erster Entwurf; warten Sie auf die überarbeitete Version. Der «Gegenentwurf», den Ihre Partei, Herr Schlüer, präsentiert hat, ist kein Lehrplan, sondern ein bildungspolitisches Positionspapier. Fachleute müssen den Lehrplan ausarbeiten. Es kann doch nicht sein, dass angesichts von Themen wie ICT, Religion oder Sexualpädagogik Parteien oder andere Träger von Partikularinteressen Lehrpläne definieren. 

Schlüer: Es geht mir doch nicht um Partikularinteressen. Ich habe im Auftrag der SVP alle grossen Lehrlingsausbildner über ihre Beurteilung der Volksschule befragt. Ihre Kritik ist substanziell. Elementare Kenntnisse werden den Schülern nicht mehr mitgegeben. Die Grundlagenausbildung wird vernachlässigt. Das Üben wird verpönt. 

Amsler: Das stimmt doch nicht. Ich mache jeden Monat einen Schulbesuch und sehe etwas vollkommen anderes. Da wird Dreisatz geübt, diktiert, gelernt, wie man einen Brief anständig schreibt. Natürlich wandelt sich die Schule. Ich bin aber überzeugt, dass die Jungen heute mehr können als früher. 

Schlüer: Wir hören von grossen in der Lehrlingsausbildung tätigen Organisationen wie Aprentas, dass viele Auszubildende zwar zum Beispiel vom Dreisatz und vom Bruchrechnen gehört haben. Eingeübt haben sie dies aber nie. Computer bedienen zu können, ist gut und recht, aber ein Schulabgänger muss elementare mathematische Operation auch verstehen. Zu glauben, das Erlernen von Sachkenntnis und das Beherrschen von Stoff sei von gestern, ist eine fatale Illusion. Da zeigt sich, dass der Dialog der sogenannten Fachleute mit den Ausbildnern aus der Arbeitswelt sträflich vernachlässigt worden ist. 

Wird mit dem Lehrplan 21 tatsächlich kein Wissen mehr vermittelt, sondern nur noch die Anleitung, wo man Wissen nötigenfalls holen kann? 

Amsler: Die Jugendlichen erhalten mit dem Lehrplan 21 natürlich die nötigen Kompetenzen. Aber wir wollen keine Paukerschule mehr. Sie könnten sich auch fragen, Herr Schlüer, ob wir heute mit dem Stoff unserer Volksschule noch richtig aufgestellt sind. Die Stundentafel muss vielen Ansprüchen genügen. Doch stellen Sie sich den Aufschrei vor, wenn ein Lehrer das Singen streichen und dafür mehr Dreisatz üben würde. 

Schlüer: Umsichtiges Einüben von Stoff als «Paukerschule» zu diffamieren, offenbart bereits die falsche Zielrichtung des Lehrplans 21. Man hat die Stundentafel mit dem frühen Fremdsprachenunterricht unnötig aufgebläht – zulasten der mathematischen Fächer. Das war ein grundlegender Fehler. Roche und Novartis investieren beide pro Jahr eine Milliarde Franken in den Forschungsplatz Schweiz. Wenn die Schweizer Schule kaum mehr Forscher und Techniker hervorbringt, dann werden sich diese Konzerne bald fragen, ob sie ihre Forschungsinvestitionen nicht besser dort tätigen sollen, wo die Forscher herkommen. 

Amsler: Ich gebe Ihnen recht, dass der Fachkräftemangel ein Problem ist. Die Gründe dafür liegen aber keineswegs nur im Fremdsprachenunterricht. 

Schlüer: Wenn man die mathematisch-technischen Grundkompetenzen verbessern möchte, muss man beim Fremdsprachenunterricht in der Primarschule zurückbuchstabieren. Und wenn heute die Oberstufenlehrer feststellen, dass es im Ergebnis kaum einen Unterschied macht, ob man Fremdsprachenunterricht schon in der Unter- oder erst in der Oberstufe begonnen hat, liegt eine Zurückstufung des Fremdsprachenunterrichts auf der Hand. 

Wie könnte denn der Lehrplan 21 die Mathematik stärken? 

Amsler: Der Lehrplan 21 ist kein Vehikel für eine Sprach- oder Schulpolitik. Zu Mathematik, Technik und Naturwissenschaften macht er glasklare Aussagen, und zwar sowohl in den einzelnen Fächern als auch in fächerübergreifenden Themengebieten. 

Schlüer: Das ist theoretisch gut, aber in der Praxis muss man dafür auch die Zeit einräumen. Wir plädieren dafür, den Fremdsprachenunterricht wieder ganz auf der Oberstufe anzusiedeln. 

15 bis 20 Prozent der Schulabgänger können nicht ohne Probleme lesen und schreiben und beherrschen die vier mathematischen Grundoperationen nicht. Wie reagiert der Lehrplan 21 darauf? 

Amsler: Der Lehrplan 21 ändert nichts am Bildungsniveau. Auch die Anzahl «Risikoschüler» wird sich nicht verändern. Aber dank der Kompetenzorientierung kann man solche Schüler schon im ersten Zyklus (Kindergarten bis 2. Klasse) erkennen und handeln. 

Amsler: Die Kantone kennen unterschiedliche Modelle, wie mit Schülern mit Lernschwächen umzugehen ist, integrieren, separieren oder Sonderschule. Da sind wir bei einem äusserst wichtigen Thema angelangt: der Heterogenität der heutigen Schule. Sie ist eine grosse Herausforderung. 

Der Lehrplan 21 ist also an Kompetenzen orientiert. Nehmen wir das Thema Marignano. Was ist der Unterschied zwischen Wissen und Kompetenz? 

Amsler: Das ist kein einfaches Beispiel. Wissen ist natürlich eine zentrale Voraussetzung für Kompetenz. Aber man soll nicht nur das Wissen haben, sondern es auch anwenden können. Zum Beispiel in einem gut gehaltenen Vortrag. Nehmen wir also Marignano: Man kennt nicht nur Jahreszahlen und Heerführer, sondern kann das Geschehnis in einen Zusammenhang stellen. Das Ziel ist also eine Handlungsorientierung. 

Schlüer: Die Meinungen darüber, was Kompetenzorientierung ist, sind tief gespalten. Einige behaupten, es bleibe alles beim Alten. Andere verstehen darunter das «selbstentdeckende Lernen». Nicht mehr Stoff zu beherrschen ist gefordert, sondern das Entwickeln von Fähigkeiten, um mit neuen, irgendwo gespeicherten Informationen umzugehen. Das Lernen wird dabei als individueller Prozess bezeichnet, den der Lehrer bloss noch als «Coach» begleitet. Mit einer solchen Methode können allenfalls ein paar vife Schüler erreicht werden. Die Mehrheit wird damit überfordert sein. 

Amsler: Der Lehrplan 21 ist leistungsorientiert und auf Lebenstauglichkeit ausgerichtet. Das Lernen ist viel komplexer, als Sie es darstellen, Herr Schlüer. Lernen besteht aus einem Mix von Frontalunterricht, Gruppenarbeit, selbstgesteuertem Lernen usw. Dass es dafür eine starke Lehrperson braucht, ist völlig unbestritten. 

In den USA haben Bildungsstandards zu Schulrankings geführt. Unterrichtet wird nach dem Motto: «teaching to the test». Lehrer fühlen sich zermürbt. Warum brauchen wir jetzt auch so ein System? 

Amsler: Ich bin sicher, Lehrer und Lehrerinnen sind froh, wenn sie ein klar definiertes Unterrichtsziel haben. In den Methoden bleiben sie frei. Ich garantiere Ihnen, dass es bei uns keine Schulrankings geben wird. 

Schlüer: Das ist schön zu hören, aber überzeugt bin ich nicht. Wie schnell sind die Bildungsverantwortlichen der öden Punkte-Jägerei des Bologna-Systems erlegen! Mir gefällt der Begriff Bildungsstandards grundsätzlich nicht. «Ziele» ist zutreffender. Ich bezweifle, ob bei definierten Standards die Methoden und die Lehrmittel tatsächlich frei bleiben. Wir sollten ohnehin weniger auf ausländische Schulmodelle schauen, sondern unser eigenes weiterentwickeln. Ein Systemfehler, der dringend behoben werden muss, ist das Konzept des Einheitslehrers auf der Oberstufe. Davon müssen wir wegkommen. Wir müssen Jugendliche, deren Fähigkeiten nicht im intellektuellen, sondern im technischen, handwerklichen Bereich liegen, gezielter fördern. Lehrmeister berichten von Handwerker-Lehrlingen, die bis zum ersten Lehrtag noch nie ein Werkzeug in der Hand hatten. Die Intellektualisierung der Volksschule zum Nachteil der Praxisorientierung ist ein gravierender Fehler. 

Beim Thema ICT geht es um den «Computerführerschein». Das wird von der Wissenschaft kritisiert. Programmieren sollen die Kinder lernen, nicht Excel-Tabellen ausfüllen. 

Amsler: Im Bereich ICT haben wir grossen Nachholbedarf in der Volksschule. Die Themen reichen vom Programmieren bis zur Medienkompetenz. Das wird im Lehrplan abgebildet. Sicher wird Programmieren nicht als eigenes Fach gelehrt. Aber ein gewisses Verständnis für die technologischen Grundlagen muss vermittelt werden. 

Der Lehrplan definiert Kompetenzen auch für Themen wie Gleichstellung, soziale Gerechtigkeit, Partnerschaft, Sexualität, wertschätzende Sprache. Wird die Schule jetzt zum Volkserzieher? 

Schlüer: Erziehung ist und bleibt elterliche Verantwortung. Die Schule übernimmt die Verantwortung für die Ausbildung. Natürlich umfasst Ausbildung auch erzieherische Elemente. Aber bei Themen wie Sexualität liegt die Priorität beim Elternhaus. 

Amsler: Diese Themen gehören zu den fächerübergreifenden Kompetenzen. Schule und Elternhaus müssen zusammenarbeiten. Kinder müssen in der Schule wichtige Informationen zu Schwangerschaft, Verhütung und Krankheiten erhalten, denn nicht alle Eltern vermitteln diese. Leider – denn dies wäre klar Sache des Elternhauses. 

Nochmals: Will der Lehrplan den politisch korrekt denkenden Schüler? 

Amsler: Ich freue mich auf die Konsultation, die im Sommer beginnt. Wenn dabei zum Beispiel das Gender-Thema viel Kritik erhält, streichen wir es. 

Schlüer: Wenn sich die Konsultation auf Themen wie Gender, Homosexualität und Ähnliches konzentriert, ist dem Lehrplan 21 Widerstand gewiss. In der Volksschule sollen nicht Ideologen unterrichten. In der SVP ist die Planung schon weit gediehen, wie wir an der Vernehmlassung teilnehmen werden. Wir wollen einen schlanken Lehrplan, der Ziele formuliert, der den Weg zum Ziel aber den Kantonen bzw. den Lehrern überlässt. Jeden Versuch, das Unterrichten zu reglementieren, werden wir bekämpfen.

Hier finden Sie das Interview als PDF