Aktuelles / Notizen

12.10.2013

Interview im Tages-Anzeiger


Zum Lehrplan 21 mit dem D-EDK Präsidenten

Das folgende Interview ist gleichzeitig im Tages-Anzeiger und im Berner Bund erschienen. Das Interview haben Anja Burri und Patrick Feuz geführt.

Ihre Frau ist Lehrerin. Wie oft haben Sie schon mit ihr über den neuen Lehrplan gestritten? 

Völlig klar: Es wird für die Lehrer anspruchsvoll, den neuen Lehrplan umzusetzen. Nur wenn es uns gelingt, sie davon zu überzeugen, dass wir damit ein praxistaugliches Instrument für den Schulalltag bieten, besteht eine Chance auf Erfolg. Selbstverständlich hatte ich schon Diskussionen mit meiner Frau. 

Ihre Frau wird beispielsweise wissen wollen,  wie sie künftig die Schüler bewerten soll. Laut Lehrplan muss die Schule verstärkt «Kompetenzen» statt Wissen vermitteln. Ist so die Leistung der Schüler überhaupt noch messbar?

Wir stellen die schulische Welt nicht auf den Kopf. Schon heute wird in der Deutschschweiz förder- und kompetenzorientiert unterrichtet. Am heutigen Bewertungssystem ändert sich nichts. Die Bewertung besteht schon aktuell nicht nur aus Prüfungsergebnissen. Man schaut etwa, wie sich der Schüler während des ganzen Schuljahres in den Unterricht einbringt. 

Namhafte Pädagogen sagen, konsequenterweise müsste man die Noten im neuen System ganz abschaffen. 

Das ist ein Glaubenskrieg. Der Lehrplan lässt diese Frage bewusst offen. 

Wären Sie persönlich für eine Volksschule ohne Noten zu haben? 

Nein. Die Volksschule muss das reale Leben abbilden. Und dort gibt es im engeren und weiteren Sinn auch Noten. 

Mit einer Vergleichsprüfung will man künftig feststellen, was die Schüler in den einzelnen Gebieten der Deutschschweiz können. Auch das setzt die Lehrer unter zusätzlichen Druck. 

Niemand will unsägliche Schulrankings, wie man sie zum Teil im Ausland kennt. Es soll lediglich überprüft werden, ob die definierten Bildungsstandards in der Deutschschweiz auf den einzelnen Schulstufen erreicht werden. 

Liegen die Ergebnisse erst einmal vor, wird es bald Kantons- und Schulrankings geben. 

Die Bildungsdirektoren stehen in der Pflicht, dass es nicht so weit kommt. Aber Sie haben recht, es wird nicht einfach sein. Es gibt Kräfte, die darauf drängen werden, die Werte zu vergleichen und Ranglisten zu erstellen. Immer wenn es Daten gibt, besteht die Gefahr, dass sie ausgewertet werden. 

Die Schule soll noch vielfältiger werden. Man will den Kindern «nachhaltige Entwicklung» beibringen, den schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen. Gehört das zum Grundauftrag der Schule? 

Den Sinn für nachhaltige Entwicklung zu schärfen, kann nicht nur die Aufgabe der Eltern sein. Wenn die Politik über die Energiewende redet und die natürlichen Ressourcen schonen will, muss auch die Schule die Kinder für solche Themen sensibilisieren. Es geht hier immerhin um die Frage, wie wir mit unserem Planeten umgehen. Es ist mir ziemlich egal, wenn sich gewisse politische Gruppierungen daran stören. 

Geschichte und Geografie sollen zusammengelegt werden. Ist es wirklich sinnvoll, diese Disziplinen in einem diffusen Fächer-Konglomerat aufgehen zu lassen?

Mit dem Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft entsteht eine logische Verbindung. In der heutigen Welt, in der vieles interdisziplinär und vernetzt ist, wäre es illusionär, eine absolute Trennschärfe zwischen den Fächern zu fordern. 

Pardon: Das tönt nach Pädagogengerede. Der separate Geschichtsunterricht schärft den Blick für die Entwicklung von Gesellschaften und die dafür entscheidenden Bedingungen. Diese Perspektive aufs Spiel zu setzen, ist fahrlässig. 

Geschichtsunterricht ist zentral und findet weiterhin statt. Aber in einer neuen, übergreifenden Schulwelt.

Computer und Medien sollen in der Schule einen höheren Stellenwert erhalten. Welche Fächer werden dafür bluten müssen? 

Der Lehrplan schlägt vor, ICT und Medien fächerübergreifend zu unterrichten. Kommt man nach der Konsultation zum Schluss, es brauche dafür ein eigenes Fach, kann dies nur zu Lasten eines anderen Faches gehen. Egal welches ich Ihnen jetzt nennen würde, es käme schlecht an. 

Und ihre persönliche Meinung? 

Die Forderung nach mehr ICT im Unterricht ist berechtigt. Aber ich glaube nicht, dass in der heutigen Stundentafel irgendwo Luft drin ist. Den Sport und die musischen Fächer braucht es genauso wie die eher kopflastigen. 

Der Informatikdachverband möchte ICT dem Fächerbereich «Natur Mensch Gesellschaft» zuordnen. 

Damit hätte die Informatik einen fixen Platz im Stundenplan. Diese Entscheidung muss die Politik fällen. Ich wünsche mir, dass sich die 21 Kantone einigen. Die Hoheit über die Stundentafel liegt nun einmal bei den Kantonen. Am Ende wird jeder selber entscheiden. 

Von Harmonisierung keine Spur. 

Im Wallis erhalten die Kinder in den ersten sechs Schuljahren mehr als 7000 Lektionen, in Luzern weniger als 6000. Der neue Lehrplan rüttelt nicht daran, er orientiert sich am Durchschnitt. Wir stellen aber fest, dass sich die Kantone bei aktuellen Anpassungen ihrer Stundentafeln an den Rahmenvorgaben des Lehrplan 21 orientieren, dadurch gibt es eine Annäherung. Eine völlige Anpassung der Stundentafel würde einige Kantone sehr viel Geld kosten. Mir persönlich wäre es dennoch lieber gewesen, wir hätten den Mut gehabt, eine einheitliche Stundentafel vorzuschlagen. 

Warum? 

So hätten wir uns generell besser auf die wesentlichen Aufgaben der Schule konzentrieren können. Es wäre einfacher gewesen, Forderungen von aussen abzuwehren,  was sonst noch alles in die Schule gehöre. 

Zurück zum ICT-Unterricht. Soll jeder Schüler ein kleiner Programmierer werden? Oder geht es um den Umgang mit den Medien? 

Wir wollen keine ETH-Ingenieure heranzüchten. Es geht um den verantwortungsvollen Umgang mit den modernen Medien und um eine virtuose, aber am Anwender orientierte Nutzung der IT-Mittel. Das geht nicht bis in alle Tiefen der Programmierkenntnisse. 

Es ist weltfremd, wenn die Schule den Kindern den Umgang mit elektronischen Medien beibringen will. 

Die Lehrer müssen tatsächlich aufhören zu meinen, sie wüssten alles besser als die Schüler. Bei meinen Schulbesuchen beobachte ich manchmal grossartige Situationen: Plötzlich ist ein Schüler der Lehrer. Und dieser lernt von ihm. Es gibt aber auch Lehrer, die sich diesen Entwicklungen verschliessen und ICT-Werkzeuge aus dem Klassenzimmer verbannen. 

Müsste die Schule nicht genau das tun: also ein Ort  sein ohne Computer?  Ein Ort, wo man in Ruhe liest, schreibt und denkt? 

Es braucht ruhige Inseln des Zusammenseins zum Denken und Lernen. Gleichzeitig kommt die Schule nicht darum herum, die Kinder auf die Mediennutzung vorzubereiten, denn Berufsleben und Freizeit beruhen heute auf ICT. Das ist ein Spagat. Wenn ich das sage, mag das opportunistisch tönen - als ob ich es allen recht machen möchte. Aber ich glaube wirklich, dass es beides braucht. 

Der Lehrplan bürdet der Schule viel auf. Dabei hat man viele Lehrer und Schüler eben erst mit der Einführung der zweiten Fremdsprache in der Primarschule überfordert. 

Falls sich die Kantone dafür entscheiden, den Sprachenkompromiss der Erziehungsdirektoren wieder zu kippen, wäre in vielen Kantonen das Frühfranzösisch in Gefahr. Der Aufschrei der Empörung in der Romandie wäre programmiert. Die Politik muss sich fragen: Will man das? Weil in mehreren Kantonsparlamenten bereits erste Vorstösse eingereicht wurden, kommen wir um diese Diskussion nicht herum. Zudem stellen auch die Lehrer gewisse Forderungen. 

Und die Kinder? Schwächere Schüler sind schon heute dauerfrustriert. 

Für ein Primarschulkind, das Mühe hat oder sogar noch eine andere Muttersprache spricht, sind zwei Fremdsprachen eine Herausforderung. Die Frage ist halt immer: Nach welchen Schülern richten wir unsere Schule aus? Sie haben heute eine riesige Heterogenität von Hochbegabten bis zu Kindern mit Lernproblemen. Apropos Kinder: Wir hören bei solchen Entscheiden immer auf die Erwachsenen. Wir sollten auch einmal die Schüler fragen, was sie von zwei Fremdsprachen halten. 

Die Mehrheit fände Englisch toll und Französisch überflüssig.

Wenn die Kinder sagen würden: Französisch ist in Ordnung, aber erst ab der 8. Klasse, wäre das eine Antwort. Das müsste man sich dann überlegen. 

Wagen Sie eine Prognose: Was wird vom Lehrplan übrig sein, wenn Ihre Grosskinder zur Schule gehen? 

Die Diskussion wird weitergehen, der Lehrplan nicht mehr derselbe sein.  So muss es sein. Gewisse Erkenntnisse und Erfahrungen sollen dazu führen, dass der Lehrplan angepasst wird. 

In 5 Jahren wird wieder zurückbuchstabiert? 

Das ist sehr gut möglich. Einen Lehrplan fortzuschreiben heisst nicht, immer neue Ideen und zusätzliche Aufgaben einzuführen. Vielleicht kommen wir dereinst zum Schluss, dass die Schule wieder weniger machen muss.