Aktuelles / Notizen

13.01.2014

az Interview mit RR Christian Amsler


...zum Abschluss Konsultationsphase Lehrplan 21

«Die Macher haben zuviel reingepackt» (Interview von Praxedis Kaspar Schmid mit RR Christian Amsler zum Lehrplan 21) 

schaffhauser az Christian Amsler, Sie sind dieses Jahr Regierungspräsident des Kantons Schaffhausen und bleiben weiterhin Vorsitzender der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK, die für den Lehrplan 21 zuständig ist. Wie bringen Sie diese beiden anspruchsvollen Aufgaben unter einen Hut? 

Christian Amsler Sicher bringt ein Mandat wie das Präsidium der D-EDK ein Stück Zusatzarbeit mit sich – und das Regierungspräsidium verursacht ebenfalls einen gewissen Aufwand – ein paar Termine und Repräsentationsaufgaben mehr als üblich sind zu absolvieren. Mir fällt es relativ leicht, und ich habe auch Freude dran, mich gut zu organisieren, das gelingt mir in der Regel auch ganz ordentlich. Besonders wichtig ist ein gutes Umfeld: Unser Departementssekretariat hier in Schaffhausen muss besonders gut koordinieren und auch das Generalsekretariat der Deutschschweizer EDK in Luzern wird vieles für mich vorbereiten und organisieren. Mit einer guten Selbstorganisation, einem funktionierenden Zeitmanagement und professioneller Unterstützung sollte die Sache gelingen. 

Sprechen wir über den Lehrplan 21: Vor Ihrer politischen Karriere waren Sie Lehrer und später Prorektor der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen, Sie kennen also die Schule aus Sicht des unterrichtenden Praktikers. Hätten Sie als Lehrer gerne mit dem Lehrplan 21 gearbeitet? 

Wissen Sie, ich bin sehr gerne Lehrer gewesen, und ich könnte mir gut vorstellen, eines Tages wieder in den Schulbetrieb einzusteigen, im Ernst! Ich habe in Stetten zehn Jahre lang die Mittelstufe unterrichtet, und es hat mir eine Menge Freude gemacht. In diesem Alter sind die Kinder ja Jäger, Sammler und Entdecker, und es ist wunderbar, sie für die Natur zu begeistern. Zum Lehrplan 21: Ja, ich hätte gerne danach unterrichtet. Natürlich hätte ich mich auch einarbeiten, mich mit der Materie vertraut machen müssen. Ich möchte aber in diesem Zusammenhang betonen, dass ich den Lehrplan nicht für matchentscheidend halte, weder für die Lehrperson noch für die Schülerinnen und Schüler. 

Und das sagen Sie, der den Lehrplan 21 einführen muss? 

Es ist vielleicht ein bisschen speziell, wenn ich das ausgerechnet im Gespräch über den neuen Lehrplan sage, aber es ist mein Ernst. Die Schule lebt in allererster Linie von der Lehrperson und von der Bereitschaft der jungen Menschen zum Lernen. Der Lehrplan ist eine Richtschnur, ein roter Faden, der mir zeigt, welche Kompetenzen ich mit den Schülern erarbeiten soll. Aber auch mit dem neuen Lehrplan bleibt die Gestaltungsfreiheit der Lehrperson absolut erhalten. Wenn sie auf ihre eigene Schulzeit zurückschauen, werden Sie sich bestimmt nicht daran erinnern, wie virtuos und vielfältig diese oder jene Lehrperson unterrichtet hat. Sie werden sich vielmehr erinnern, ob er oder sie als Mensch überzeugt hat oder nicht. Das bleibt auch mit dem neuen Lehrplan so. 

Und was würden Sie als Lehrer kritisieren? 

Als Lehrer würde ich, wie viele andere, sagen, dass man zuviel gewollt hat. Die Fachdidaktiker, also die Verfasser des Lehrplans, haben aus lauter Zuneigung zu ihrem eigenen Fach zuviel reingepackt. Jeder und jede einzelne wollte es möglichst gut machen, und alle zusammen sind dabei ein Stück übers Ziel hinausgeschossen. Als Lehrer würde ich sagen, nun sind die Macher des Lehrplans gefordert, sie müssen die Sache verdichten, vereinfachen und auf das Wesentliche konzentrieren. 

Wie hat man den Lehrplan überhaupt erarbeitet? 

Man hat eine Art Quintessenz aller Deutschschweizer Lehrpläne gesucht, einen Mittelwert aller Stundentafeln errechnet – und das hat den sogenannten Füllstand ergeben. Ziel war es, mit dem neuen Lehrplan nur 80 Prozent davon zu definieren und 20 Prozent freizulassen, damit die Kantone ihre Spezialitäten und Eigenheiten unterbringen könnten. Es sollte noch Luft drin sein. Aber das Echo aus allen Kantonen zeigt, dass wir genau das nicht erreicht haben. Diese Kritik nehmen wir entgegen, da müssen wir noch einmal dahinter. 

Der Lehrplan 21 ist ein wichtiges Werk der Koordination und Zusammenarbeit zwischen den deutsch- und mehrsprachigen Kantonen. Warum bleiben die französischen und die italienischen Sprachgebiete vom neuen Lehrplan ausgeschlossen? 

Gesamtschweizerisch wird derzeit ja von uns Erziehungsdirektoren gefordert, wir müssten den Fremdsprachenunterricht endlich harmonisieren. Ein Teil der Kantone beginnt heute mit Englisch in der dritten Klasse und fährt in der fünften mit Französisch fort, während andere es umgekehrt machen. Das ist natürlich das Gegenteil von Harmonisierung und betrifft Familien, die zügeln, auf unangenehme Weise. Das ist aber nicht Gegenstand des Lehrplans, sondern eine Frage der Gesamt EDK, von HarmoS, also eine Frage des Bildungsverfassungsartikels. In Bezug auf die Lehrpläne agieren die Sprachregionen selbständig. 

Besteht nicht die Gefahr, dass die Schweizer Volksschule langsam auseinanderfällt? 

Wenn Sie die Nase in den Wind halten, sehen Sie, dass die Sprachendiskussion wieder aufflammt: Was kommt zuerst? Englisch oder die zweite Landessprache Französisch? Es sind ja nicht einmal alle Kantone dem HarmoS-Konkordat beigetreten, obwohl die Bevölkerung die Vorlage mit grosser Mehrheit gutgeheissen hat. Ich sehe also zumindest eine grosse Herausforderung auf die Kantone zukommen. Wenn sie keine Einigung schaffen, wird der Bund regulatorisch eingreifen, wie es ihm gemäss Verfassung zusteht. Der Bund wird dann aber sagen, in der dritten Klasse kommt Französisch als zweite Landessprache, erst in der fünften Klasse kommt Englisch – und das finde ich, ehrlich gesagt, wichtig für den Zusammenhalt unserer mehrsprachigen Schweiz. 

Wer als Laie einen Blick in den Lehrplan wagt, versteht, dass Lehrpersonen ihn massiv überladen und zu anspruchsvoll finden. Und besonders wundert man sich über die gestelzte Sprache, zum Beispiel beim Thema Haushalt: «Schülerinnen und Schüler können Gelingensbedingungen für das intergenerative Zusammenleben von Menschen in einem Haushalt formulieren ...» 

Da haben Sie aber ein prachtvolles Beispiel herausgepickt. Ich kann Ihnen nur beipflichten, das ist suboptimal. Aber der Chef der D-EDK konnte ja nicht auch noch die ganze Abschlussredaktion machen ... Spass beiseite: Solche Texte müssen überarbeitet werden, das ist keine Frage. Diese Kritik nehmen wir sehr ernst. Und vor allem nehmen wir die Sorgen der Lehrpersonen ernst. Sie arbeiten heute in einem sehr anspruchsvollen gesellschaftlichen Raum mit teilweise hohem Druck. 

Aber sicher. Das gibt aber Streit! 

Natürlich. Den hatten wir übrigens schon. Es gab Riesenauseinandersetzungen um Formulierungen. 

Was sieht der neue Lehrplan für jene Kinder vor, die die Lernziele nicht erreichen? Wird der integrative Unterricht weitergeführt oder separiert man in Zukunft die schwachen Kinder wieder?

In der Volksschule haben wir tatsächlich eine riesige Heterogenität, ein Abbild der Bevölkerung mit durchschnittlichen, hochbegabten, begabten und schwächeren jungen Menschen, die der besonderen Unterstützung bedürfen. Für sie wird es nach wie vor die Möglichkeit zu gewissen Anpassungen oder sogar zur Befreiung von Lernzielen geben. An dieser Herausforderung und an der Möglichkeit, individuelle Lösungen zu treffen, ändert der neue Lehrplan nichts. 

Und der integrative Unterricht? 

Auch dieses Thema ist keine Frage des Lehrplans 21. Ich betrachte diese neu aufflammende Diskussion um Separation und Sonderstrukturen für Kinder mit Unterstützungsbedarf als verfehlt. Dort, wo es sich als wichtig erweist für das Kind, kann man eine Sonderschulung heute schon einrichten, wir haben sehr gute Institutionen dafür. Als Prinzip aber muss für die Schule das Gleichstellungsgesetz gelten, das unsere Verfassung und die Uno Charta gleichermassen formulieren. Das und nichts anderes ist die Aufgabe der Volksschule. Der Leitsatz heisst: Integration wo möglich, Sonderschulung wo nötig. Der Gedanke der Integration ist gesellschaftlich wichtig und wertvoll. Dass Schule auf dieser Basis anstrengend sein kann, ist noch lange kein Grund, jetzt wieder davon abzurücken. 

Die Vernehmlassung hat auch im Kanton Schaffhausen viel Echo, Kritik und Anregungen gebracht. Wie geht es nun weiter? 

Ich habe mich riesig gefreut über all die lebhaften Diskussionen rund um den neuen Lehrplan und über die vielen Stellungnahmen aus unserem Kanton. Was jetzt kommt, ist die sorgfältige Auswertung in allen beteiligten Kantonen im ersten Quartal 2014. An der Plenarkonferenz der D-EDK im März 2014 werden wir entscheiden, ob mehr Zeit zum Überarbeiten nötig ist als vorgesehen. Eigentlich wollten wir den überarbeiteten Lehrplan im Herbst 2014 den Kantonen zur Einführung übergeben, aber das wird kaum zu schaffen sein angesichts der doch recht grundsätzlichen und umfangreichen Kritik. Der Lehrplan muss in sämtlichen Fachbereichen überarbeitet und vereinfacht werden, das braucht Zeit. Da die Hoheit der Lehrpläne bei den Kantonen liegt, sind sie frei in der Einführung. Ich sehe sie so für die Jahre 2016, 17, 18 – auch für Schaffhausen. 

Bild Peter Pfister, Fotograf

Zur Person Christian Amsler 

Seit Januar 2013 ist der Schaffhauser Erziehungsdirektor  Christian Amsler Präsident der Konferenz der Erziehungsdirektoren der Deutschschweiz (D-EDK) und leitet in dieser Eigenschaft die Einführung des Lehrplans 21 der Deutschschweizer Kantone, dessen Vernehmlassung in Politik, Lehrerschaft und Öffentlichkeit aufs Jahresende hin abgeschlossen worden ist. Vor der Wahl in die Kantonsregierung war Amsler Prorektor für Weiterbildung und Dienstleistungen an der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen, in seinem Erstberuf war er Primarlehrer – mit so grosser Freude, dass er sich eine gelegentliche Rückkehr in die Schulstube heute noch vorstellen kann. (P.K.)