Aktuelles / Notizen

05.03.2014

Interview mit RR Christian Amsler


in der Neuen Luzerner Zeitung

Christian Amsler, Sie sind ein Verfechter von Harmos, wonach in der Primarstufe zwei Fremdsprachen unterrichtet werden. Nun macht Ihnen ausgerechnet Ihr eigener Kanton einen Strich durch die Rechnung – das Schaffhauser Kantonsparlament hat am Montag einen Vorstoss überwiesen, der nur eine Fremdsprache in der Primarschule verlangt. Wie haben Sie das aufgenommen?

Christian Amsler: Gelassen. Man wäre nicht gut beraten als Politiker, sich ob solchen Entscheiden aufzuregen. Auch andere Kantone werden der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) noch solche Zeichen senden. Wir werden als Regierungsrat unsere Hausaufgaben machen und der EDK diesen Brief schreiben.

Gerade als Präsident der Deutschschweizer Erziehungskonferenz (D-EDK) können Sie darüber aber kaum glücklich sein...

Amsler: Selbstverständlich ist das für mich etwas enttäuschend, wenn meiner Meinung nach der falsche Weg eingeschlagen wird.

Die Regierungen von Nidwalden und Zug haben den Auftrag bekommen, das Fremdsprachenkonzept umfassend evaluieren zu lassen; in Luzern, Nidwalden und Graubünden sind Volksinitiativen lanciert worden und so weiter. In Luzern steht gar der kantonale Lehrerverband hinter dem Begehren. Kann eine so breite Front auf dem «falschen Weg» sein?

Amsler: Wir implementieren das neue System doch erst. Die ersten Schüler, die mit zwei Fremdsprachen auf Primarstufe konfrontiert worden sind, haben die Volksschule noch nicht einmal abgeschlossen. Die EDK hatte immer vor, die Situation genau zu evaluieren, nachdem ein oder zwei Jahrgänge die Volksschule im neuen System durchlaufen haben. Wenn sich in einer sauberen Evaluation Mängel am System zeigen, bin ich der erste, der diese zu beheben gedenkt. Es sind aber genau die Stimmen, die ‹Reformwahn› schreien und Ruhe fordern, die nun auf unseriöse Art und Weise Unruhe in den laufenden Prozess bringen. Man hat viel Zeit und Geld in die Aus- und Weiterbildung der Lehrer gesteckt. Gerade in Sparzeiten setzt man nun auf diese Weise fahrlässig Geld in den Sand.

Können Sie die Argumente der Harmos-Gegner nicht nachvollziehen?

Amsler: Natürlich nehmen wir die Bedenken ernst. Ich mahne aber zur Vorsicht. Argumentiert wird etwa, dass die Schüler überfordert seien. Manche Schüler haben nun einmal Mühe mit Sprachen, andere haben dafür Schwierigkeiten in Mathematik. Meiner Ansicht nach findet hier eine Nivellierung nach unten statt, man richtet sich bei dieser Beurteilung zu sehr an den schwächeren Schülern. Wir müssen aufpassen, dass wir die Schüler irgendwann nicht noch unterfordern. Als ehemaliger Lehrer erachte ich mich als zu dieser Aussage doch legitimiert.

Kritisiert wird aber auch, dass aufgrund des Sprachunterrichts andere Fächer zu kurz kommen.

Amsler: Die EDK hat mit dem Modell einer ersten Fremdsprache ab der dritten Primarstufe und einer zweiten ab der fünften einen Sprachkompromiss geschlossen, der auf den Bildungsartikel der Bundesverfassung zurückgeht. Vielen ist auch nicht bewusst, dass es ein nationales Sprachengesetz gibt, das fordert, dass in der Volksschule mindestens eine Landessprache und eine weitere Fremdsprache unterrichtet werden. Es ist sicher so, dass sich die Schule stark in Richtung der Sprachen entwickelt hat. Es handelt sich dabei aber gerade in der heutigen Zeit der Globalisierung um eine sehr wichtige Kultur- und Gesellschaftskompetenz. Dass Eltern ihre Enttäuschung darüber äussern, dass gewisse Versprechen nicht eingehalten wurden, kann ich hingegen sehr gut verstehen. Der Sprachunterricht in der Primar sollte spielerisch vonstatten gehen. Nun handelt es sich aufgrund des Drucks der Sekundarschulen und Gymnasien um promotionsrelevante Fächer. Klar ist das zum Teil ein von den Lehrern selber hausgemachtes Problem. Man muss aber auf diese unselige Entwicklung hinschauen. Verbesserungen sind immer möglich. Das ist aber kein Grund, um das bereits rollende Rad zurückzudrehen.

Sie bezeichnen die Sprachen also als «Kompetenz». Der Lehrplan 21 will weg von Faktenwissen, hin zu kompetenzorientiertem Lernen. Wobei handelt es sich denn beim Erlernen von Vokabular?

Amsler: Klar, es gibt einen grossen Kampf um den Begriff ‹Kompetenz›. Ohne Wissen kann es keine Kompetenzen geben. Sprachen sind ein Paradebeispiel dafür. Ein Schüler kann nicht einfach ein Telefonat avec la Romandie führen, ohne das Basiswissen dazu zu haben. Dieses muss er aber auch Situationsgegeben anwenden können – das wiederum ist eine Kompetenz.

Und dennoch herrscht grosse Unsicherheit darüber, was das nun genau bedeutet.

Amsler: Wenn man sich den Lehrplan durchliest, stösst man an einzelnen Stellen schon auf schwierig Lesbares. Auch wenn wir uns bemüht haben, den Lehrplan möglichst verständlich zu machen. Es geht darum zu beschreiben, wie Schüler erworbenes Wissen konkret umsetzen sollen. Auch von Seiten der Wirtschaftsvertretern bekommen wir zu hören, dass Kompetenzen durchaus erwünscht sind. Viele kantonale Lehrpläne gehen heute schon in diese Richtung. Der Lehrplan 21 ist lediglich eine konsequente, moderne und zukunftsgerichtete Fortschreibung.

Besteht aber nicht die Gefahr, dass die Schüler zwar lernen, wie sie lernen können, de facto aber nichts konkretes lernen?

Amsler: Das stimmt nicht. Jeder, der Internetzugriff hat, kann sich den Lehrplan unter www.lehrplan.ch anschauen. Er bildet sehr viele konkrete Wissensziele ab – man muss sich höchstens an die Formulierung gewöhnen. Es sind die Hunde, die am lautesten bellen, die gehört werden. Eine grosse Mehrheit ist dem Lehrplan 21 gegenüber positiv eingestellt.

Mal ehrlich – wer soll die 557 Seiten, die über 4000 Kompetenzziele umfassen, denn tatsächlich lesen?

Amsler: Sie und ich zum Beispiel! (lacht) Die Kritik, dass der Lehrplan zu umfangreich ist, kann ich nachvollziehen. Es sind sehr engagierte Fachkommissionen an der Arbeit. Stellenweise hat man vielleicht schon etwas überbordet – alle wollen ihrem Lieblingskind möglichst viel Zuwendung zukommen lassen. Es ist für mich ganz klar, dass wir das Dokument noch vereinfachen werden. Es ist aber eine Gratwanderung – ins Gegenteil verfallen und den Lehrplan auf 20 Seiten zusammenstreichen dürfen wir auch nicht.

Warum nicht?

Amsler: Damit würde man einen zu grossen Freiraum für Interpretationen lassen und das Ziel einer gewissen Harmonisierung verfehlen.

Sie teilen die Furcht nicht, dass die Lehrer mit dem Lehrplan 21 keinen didaktischen Freiraum mehr haben?

Amsler: Der Lehrplan ist eine Leitplanke, ein roter Faden. Er kann und soll aber die Lehrpersonen als absolute Schlüsselfiguren im Schulunterricht nicht verdrängen. Es sind immer noch die Lehrer, die darüber entscheiden, wie sie den Schülern einen Stoff beibringen. Der Lehrplan ist ein Nachschlagewerk. Viel entscheidender sind die Lehrmittel, die zum Teil auch entsprechend erneuert werden müssen.

Im Lehrplan finden sich auch Kompetenzen zu Themen wie soziale Gerechtigkeit, Sexualität, Gleichstellung und so weiter. Sollen kleine Idealisten in den Schulen heranwachsen?

Amsler: Die Schule hat tatsächlich den Auftrag, zusammen mit den Eltern den Schülern einen sorgsamen Umgang mit ihrer Umwelt beizubringen. Das hat nichts mit einer politischen Orientierung zu tun. Wir wollen die Schüler für die Realität fit machen. Die Kritik an diesen Inhalten fängt bei der SVP an und hört bei der Freikirche auf. Der Bildungsauftrag geht aber über die Mathematik hinaus und betrifft etwa auch Themen wie Umweltverschmutzung, Energie- und Genderfragen.

Entzieht man damit den Eltern aber nicht die Erziehungskompetenz?

Amsler: Das ist eine sehr pauschalisierende Kritik. Klar findet hier immer mehr eine Zusammenarbeit mit den Eltern statt – Ziel dabei ist es, das Beste für die Kinder zu erreichen. Die Schule will die Eltern nicht ersetzen. Diese müssen aber auch ihre Verantwortung wahrnehmen. Es gibt leider viele Kinder, die aus schwierigen Familienverhältnissen kommen und nicht alles lebensnotwendige aus dem Elternhaus mit auf den Weg bekommen. Ein Beispiel ist das Thema Aufklärung: Wir erhalten alarmierende Signale von Schulärzten, die mit Kindern konfrontiert sind, die keine Ahnung von Sexualität haben. In solchen Fällen muss die Schule eine Mitverantwortung tragen. Wir haben immer gesagt, dass wir bereit sind für Anpassungen, wenn in einem Bereich massive Kritik erwachsen sollte. Ich denke aber nicht, dass das nötig sein wird. Zudem ist die Welt sehr dynamisch und der Lehrplan 21 ist nicht sakrosankt für die nächsten 50 Jahre festgeschrieben. Er wird immer wieder überarbeitet werden.

Was wird sich in den Schulzimmern konkret ändern?

Amsler: Das ist ja der Punkt: Praktisch nichts. Bildlich gesprochen, haben wir die Lehrpläne der 21 Kantone genommen, sie durch den Fleischwolf gedreht und in einer guten Mitte den neuen Lehrplan aufgestellt. Es steht nicht viel Überraschendes drin und wir wollen die Schule nicht neu erfinden. Nur werden wir künftig keinen Flickenteppich aus unterschiedlichen Lehrplänen haben, da der Lehrplanteppich von 21 Kantonen gemeinsam gewebt wird.

Dann wird die ganze Situation überdramatisiert?

Amsler: Ja.

Kränkt Sie das, als «Vater des Lehrplans 21»?

Amsler: Nein. Wir haben mit Kritik gerechnet und in der Konsultationsphase auch sehr viele Rückmeldungen erhalten. Im Gegenteil – darüber freue ich mich sogar. Der Haupttenor ist, dass der Lehrplan eine gute Sache ist. Es gibt aber ein paar kritische Punkte, auf die wir entsprechend auch reagieren werden. Klar ist, dass sich die Bildung immer stärker im Fokus der Politik bewegt – gerade auch mit den Sparrunden, die landauf, landab stattfinden. Gefährlich ist aber, dass die Parteien das Thema für sich und ihre Wahlkämpfe entdeckt haben, was zu grosser Unruhe in der Schule führt. Man sollte aufhören, die Bildung für das Kochen politischer Suppen zu missbrauchen und die Lehrer in Ruhe ihren Job machen lassen. Die Schule hat alles andere als Polemik verdient.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass der Lehrplan 21 tatsächlich im Herbst 2014 zur Einführung in den Kantonen freigegeben wird?

Amsler: Das ist der Stand der aktuellen Zeitplanung. Im Juni spätestens sollte klar sein, wie die weiteren Schritte aussehen. Wenn es angezeigt ist, werden wir uns die nötige Zeit nehmen, um den Lehrplan zu überarbeiten. Auch wenn er dann womöglich erst 2015 freigegeben wird.