Aktuelles / Notizen

22.11.2014

Sehr gutes Interview


mit Rolf Dörig, Swiss-Life und Adecco Präsident

Sozialminister Alain Berset hat Mitte Woche seine Pläne zur Rentenreform vorgelegt. Sie bedeutet höhere Mehrwertsteuer, höheres Rentenalter für Frauen und tieferer Umwandlungssatz. Die NZZ sprach von einem «sozialpolitischen Hochseilakt» um alles oder nichts. Sie sind Präsident der Swiss Life, des grössten Ver­sicherungskonzerns im Land. Was ist eigentlich das Grundproblem bei unseren Renten?


Rolf Dörig: Dass wir heute auf allen Ebenen einer Versicherungs- und Anspruchsmentalität frönen. Gleichzeitig zeigt die demografische Entwicklung: Wir leben immer länger. Zusammen mit einer noch nie da ge­wesenen Anspruchshaltung bedeutet dies: Wir leisten uns einen Sozialstaat, den wir nicht mehr finanzieren können.

Und deshalb plant Berset nun den Sozialabbau?


Es geht nicht um Sozialabbau, sondern um die Sicherung der Altersvorsorge. Und es geht noch um viel mehr.

Nämlich?


Wenn die Prognosen stimmen, fehlen im Jahr 2030 in der AHV und der zweiten Säule hohe Milliardenbeträge. So grosse Summen, dass damit der bislang gültige Generationenvertrag ausgehebelt wird und die Solidarität zwischen Jung und Alt gar nicht mehr spielen kann.

Warum nicht?


Unsere Eltern und wir, die in den 1950ern und 1960ern Geborenen, gehören noch zu einer Generation, die vom Wirtschaftsboom profitiert hat und nach der Pension eine sichere Rente erhalten wird. Doch diese Sicherheit geht letztlich voll zulasten unserer Kinder und Enkelkinder. Sie müssen die Zeche bezahlen. Die Rentenreform des Bundesrates versucht dem entgegenzuwirken. Das ist grundsätzlich zu begrüssen.

Das heisst aber auch: Wir alle werden länger arbeiten müssen. Nicht jedoch die Führungskräfte der Swiss Life. Diese, also auch Sie, gehen mit 62 in Rente. Wie erklären Sie das Ihren Kunden?


Das ist eine berechtigte Kritik. Ja, wir alle müssen länger arbeiten. Wir haben die nötigen Änderungen initiiert und werden das Pensionierungsalter anpassen.

Wie immer, wenn irgendwo Geld fehlt, wird die Mehrwertsteuer zur Finanzierung missbraucht. Gerade die jungen Erwerbstätigen werden nach Bersets Plänen zweimal zur Kasse gebeten: einmal über höhere Rentenbeiträge und ein zweites Mal über die Erhöhung der Kon­sumsteuer. Finden Sie das richtig?


Dieser Zusammenhang besteht in der Tat. Und es ist nicht in Ordnung, wenn die Sanierung der Sozialwerke hauptsächlich über die Einnahmenseite gesteuert wird. Wird die Mehrwertsteuer erhöht, werden die Konsumenten bestraft. Steigen die Sozialabgaben der Arbeitgeber, wird die Arbeit im Hochlohnland Schweiz weiter verteuert, was die Wettbewerbs­fähigkeit schwächt.

Jede Hausfrau weiss: Niemand kann auf Dauer mehr ausgeben, als er einnimmt. Die Konsequenz wäre sparen. Aber darüber redet niemand.


Das wäre sicher der richtige Weg. Aber auch hier geht es um mehr.

Nämlich?


Wir alle haben in den letzten Jahren gelernt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Erkenntnis, dass sich Leistung und Arbeit lohnen müssen, ist zentral. Solidarität heisst nicht, dass der Staat alle Probleme löst. Irgendwoher muss das Geld ja kommen, das wir anschliessend ausgeben können. Die Mentalität der staatlichen Vollkaskoversicherung hat sich leider auch in der Schweiz bei Jung und Alt verbreitet.

Sie zeigen auf die Jungen. Aber es sind die Alten, die von diesem System profitieren.


Die Alten profitieren, ja. Aber mir geht es um einen anderen Punkt. Wenn ich heute junge Menschen wie meine Söhne sehe, wie sie sich digital bewegen, dann sind sie typische Kinder ihrer Generation: leistungsbereit, wertorientiert mit dem Wunsch, auch etwas für die Gesellschaft zu leisten. Daher ist es so entscheidend, dass wir Jung und Alt die Augen öffnen. Und ihnen bewusst machen, dass unser Wohlstand erarbeitet werden muss.

Was müssten wir tun?


Wir brauchen die Solidarität der Alten und die Leistungsbereitschaft der Jungen mehr denn je. Unsere Jugend ist eine hervorragende Generation, sie ist unsere Zukunft. Wir können nicht einfach sagen, das sind Spontis, die den ganzen Tag auf ihrem iPhone herumdrücken. Es ist unsere Verantwortung zu sagen: Schaut, das sind die Werte und Prinzipien, die unser Land wohlhabend gemacht haben.

An welche Prinzipien denken Sie?


Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, direkte Demokratie, Rechts­sicherheit.

Sie glauben, mit solchen Worten erreichen Sie die Jungen?


Wir haben gar keine Wahl. Es geht um ihre Zukunft und um die Zukunft unseres Landes.

Wie bitte?


Schauen Sie sich den Zeitgeist an! Wir leben in einer hoch­industrialisierten Wohlstandsgesellschaft, die auf sofortige Bedürfnisbefriedigung programmiert ist. Den meisten Menschen in der Schweiz geht es gut. Darauf dürfen wir zu Recht stolz sein. Aber wir sind auch bequem und genügsam geworden. Eine Art Wohlstands­lethargie ...


... Wohlstandsverwahrlosung.


Auch dies. Aber woher kommt das?


Gute Frage. Ihre Antwort?


Als unsere Generation jung war, war vieles überschaubar. Weniger global. Die Schweiz profitierte von den Nachkriegsjahren. Das Vertrauen in Politik und Wirtschaft war intakt.

Und nun?


Heute profitieren wir von einem sehr hohen Wohlstandsniveau und haben subjektiv das Gefühl, es müsse immer so weitergehen. Gleichzeitig sinken Leistungsbereitschaft und Finanzierbarkeit. Trotzdem ist die Schweiz das attraktivste Land der Welt. So attraktiv, dass viele aufspringen wollen. Das erklärt zumindest zum Teil die hohe Zuwanderung und auch Begehrlich­keiten etwa von der EU.

Wann haben sich Wirtschaft und Bürger entfremdet?


Es begann mit der Globalisierung Mitte der 1990er-Jahre, als sich auch hierzulande die Konzerne internationalisierten und amerikanisierten. In dieses Kapitel gehört auch das Grounding der Swissair. Sie wurde zum Globalisierungsopfer.

Und das führte zu ­einer zweiten Entfremdung, jener der Politik?


Die Sache ist komplexer. Für die Wirtschaft wurde mit der Globalisierung die ganze Welt zur Spielwiese. Demgegenüber schien vielen Unternehmern und Managern die Schweizer Politik als zu träge. Und für viele Wirtschaftsvertreter war das auch kein Problem, denn es lief ja alles bestens in der Heimat. Also haben sie sich von dieser abgewandt. Da war sicherlich auch Überheblichkeit im Spiel.

Und diese Entkoppelung ist nun ein Klotz am Bein der Schweiz?


In doppelter Hinsicht. Viele Menschen wollen nicht wahr­haben, dass Konzerne global denken und handeln müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Auf der anderen Seite brauchen die Unternehmen die emotionale, lokale Verankerung in der Schweiz. Auch dann, wenn sich hier nur noch der Hauptsitz befindet.

Nach dem Krieg und dem Wiederaufbau mit seiner boomenden Wirtschaft erlebten wir zwei Minikrisen: den Ölschock Anfang der 1970er-Jahre und die Euro-Skle­rose in den 1990ern. Haben wir einfach verlernt, was eine wirkliche Krise bedeutet, dass Wirtschaft und Politik so aneinander vorbei­leben können in der Schweiz?


Die Frage ist in der Tat: Lernen wir erst zu schätzen, was wir gemeinsam aufgebaut haben, wenn jeder zweite Jugendliche arbeitslos ist wie in Spanien oder wir soziale Unruhen in ganz Europa haben? Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt.


Im Moment beschleicht einen eher das Gefühl, dass wir uns von der Welt abschotten wollen.


Keineswegs! Ich sage: Wir sind für die EU ein bedeutender Partner, und die EU ist es für uns. Aber wir müssen nicht alles übernehmen, was uns dort vorgelebt wird. Das würde eine Nivellierung nach unten, zum Schlechteren bedeuten.

Werden Sie konkret!


Stichwort Arbeitsmarkt. Eine unserer ganz grossen Stärken, um die uns alle beneiden, ist der flexible Arbeitsmarkt. Seit dem sogenannten Friedensabkommen in der Metall- und Maschinenindustrie 1937 hat die Schweiz dem Klassenkampf abgeschworen und eine gelebte Sozialpartnerschaft implementiert, die mitverantwortlich war für den unglaublichen ökonomischen Aufstieg des Landes. Heute betreiben die Juso wieder Klassenkampf, wir diskutieren über staatliche Eingriffe in das Lohngefüge in der Privatwirtschaft oder unnötige Regulierungen wie eine staatliche Arbeitszeiterfassung.

Das sieht die Sozialdemokratie völlig anders. Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz eine Mitte-links-Regierung haben.


Es hat damit zu tun, dass eine bürgerlich-liberale, wirtschaftsfreundliche Politik angesichts der Polarisierung im Land verunmöglicht wird. Und hier schliesst sich ein Kreis: Wenn es uns wirtschaftlich nicht gut geht, können wir den Sozialstaat auf Dauer nicht finan­zieren.

Wer polarisiert? Die SVP, welche die bürgerliche Mitte der Schweiz gespalten hat?


Es ist nicht nur die SVP. Wir sind alle mitschuldig, dass sich die politischen Pole rechts und links verstärkt haben. Alle Parteien verfolgen nur noch kurzfristige, wahltaktische Interessen und haben die Schweiz als Ganzes aus dem Blick verloren. Deshalb geben wir auch einen Standortvorteil nach dem anderen ohne Not preis.

Kein Wunder, haben sich viele, gerade auch Junge von der Politik abgewandt.


Das ist ja mein Punkt. Wir müssen wieder zurückfinden, uns nach klaren Prinzipien richten und die Sache, die Zukunft der Schweiz, wieder ins Zentrum stellen. Das kann nur parteiübergreifend geschehen. Heute aber wird alles verteufelt, was vom Absender SVP kommt. Auch nicht alles, was von der SP kommt, ist a priori abzulehnen. Wir sollten uns eingestehen, dass nur eine Einbindung aller relevanten politischen Kräfte dieses Land voranbringen kann. Das Schweizerkreuz ist ein grosses Plus für uns alle.

Das war einmal die Stärke der Schweiz. 1891 bekam die CVP mit Josef Zemp den ersten Bundesratssitz. 1929 wurde Rudolf Minger erster Bundesrat der Vorläuferpartei der SVP, und 1943 wurde Ernst Nobs erster Bundesrat der SP. Immer gelang es, die politische Opposition in das System zu integrieren. 1959 kam die Geburtsstunde der Zauberformel. Heute gleicht die Politik des Landes einem zerstrittenen Haufen. Wie also soll hier wieder das geimeinsame Ganze, die Schweiz, in den Fokus treten?


Das geht nur über die Köpfe. Sie wissen so gut wie ich: Wenn die Menschen sich gegenseitig nicht respektieren und vertrauen und nicht mehr miteinander am Tisch sitzen können, um die gemeinsame Zukunft zu bewältigen, geht gar nichts mehr. Diese Blockade müssen wir überwinden. Wir müssen zurück zum Konkordanzmodell, zur Zauberformel im Bundesrat.

Wo sehen Sie diese Köpfe, welche die Autorität aufbringen können, die divergierenden Pole wieder zusammenzubringen? Ein Christoph Blocher etwa hat sich gerade in die Opposition verabschiedet, und der einzige SVP-Bundesrat, Ueli Maurer, macht in der Regierung Parteipolitik. Chris­tian Levrat, der SP-Präsident, sagt selber, sein einziges Ziel sei Umverteilung. In der Mitte haben wir die FDP, die seit Ulrich Bremi keine Figur mehr hat, die nur annähernd diese Autorität aufbringen könnte. In der Theorie mag es ja richtig sein, dass wir Partei­gräben überwindende Köpfe brauchen. Aber wo sind sie?


Ich habe kein Patentrezept. Die grosse Stärke der Schweiz ist die direkte Demokratie. Alle Bürger müssen an die Urne gehen. Ich glaube an dieses System: Am Schluss werden die Köpfe gewählt, die befähigt sind, die Zukunft der Schweiz zu meistern. Die anderen gehören abgewählt.

Jetzt kommt die Ecopop-Initiative an die Urne. Sie will die Zuwanderung drastisch beschränken und das Wirtschaftswachstum massiv einschränken, obwohl absehbar ist, dass die Renten mit rückläufiger aktiver Bevölkerung noch stärker unter Druck kommen als bei der heutigen Zuwanderung.

Ecopop geht klar zu weit. Das ist eine zu starre Regelung. Die Wirtschaft hat dann nicht mehr die Flexibilität, die sie braucht. Der Sozialstaat geriete noch stärker unter Druck. Am 9. Februar hat das Volk entschieden, dass die Schweiz die Zuwanderung wieder in die eigene Hand nehmen und reduzieren will. Diesen Auftrag gilt es jetzt umzusetzen, und damit kann auch die Wirtschaft leben.

Sie gehören als Präsident der Swiss Life und des Fachkräftevermittlers Adecco zu den Bestverdienenden im Land. Deshalb frage ich Sie: Was halten Sie von der Pauschalbesteuerung, die jetzt an der Urne zur Disposition steht? Ist es klug, wenn wir die Pauschalbesteuerung für reiche Ausländer nun abschaffen mit dem Risiko, dass diese das Land verlassen?


Ich persönlich empfinde die Pauschalbesteuerung als nicht fair. Sie ist aber Ausdruck des wichtigen Steuerwettbewerbs zwischen den Kantonen. Gleichzeitig bedeutet die Pauschal­besteuerung auch Minderheitenschutz, der in unserem Land eine wichtige Rolle spielt.


Sie meinen die 6000 Reichen, die davon profitieren?


Nein. Es geht um die Randre­gionen und die Bergkantone, die von Pauschalbesteuerten überdurchschnittlich profitieren. Warum soll eine bundesweite Abschaffung diese Finanzquelle versiegen lassen? Die Kantone sollten selbst darüber befinden, ob sie die Pauschalsteuer wollen oder nicht.

Letztes Thema. Wollen wir das: eine Nationalbank, die ein Fünftel ihres Vermögens in Gold horten muss, welches sie nie mehr verkaufen darf?


Gegenfrage: Wieso müssen wir die Unabhängigkeit aufs Spiel setzen und der Nationalbank goldene Fesseln anlegen, obwohl sie in der Finanz- und Schuldenkrise bewiesen hat, dass sie einen hervorragenden Job macht?

Mir fehlen die Argumente.


Die Gold-Initiative muss man ablehnen. Der Auftrag der Na­tionalbank ist die Preisstabilität, nichts anderes. Die Gold-­Initiative hat nichts mit Preisstabilität zu tun.

Sondern? Erklären Sie das einem Menschen, der glaubt, wenn man Gold einkaufe, sei alles sicher.


Das hat damit zu tun, dass die Nationalbank mit Unabhängigkeit und Flexibilität die Preis­stabilität steuern kann. Mit der Gold-Initiative legt man ihr Fesseln an, und diese Fessel heisst Gold. Dass die Nationalbank Gold besitzt, ist an sich nicht schlecht. Aber wenn man dieses nie mehr verkaufen kann, sitzt der Schweizer Franken buchstäblich im goldenen Käfig.

Wieso? 

Spekulanten wissen dann, dass die Nationalbank bei Devisenkäufen zur Stützung des Frankens parallel Gold kaufen müsste. Sie wissen auch, dass dieses Gold dann nie mehr verkauft werden kann. In extremis bedeutet dies: Sie können wahlweise gegen den Schweizer Franken oder gegen den Goldpreis spekulieren. Das heisst in letzter Konsequenz: Der Franken, die stabilste Währung der Welt, könnte daran kaputt­gehen. Wer, frage ich, möchte dafür die Verantwortung übernehmen?

Quelle: Blick, Ausgabe 22.11.2014