Aktuelles / Notizen

14.01.2015

Interview im Annabelle 1/2015


zu diversen Bildungsfragen

Herr Amsler, Sie haben früher als Lehrer gearbeitet. Wieso haben Sie den Beruf aufgegeben? 

Die Zeit als Lehrer gehört zu den zehn schönsten Jahren meines Lebens und ich könnte mir gut vorstellen eines Tages wieder ins Klassenzimmer zurückzukehren. Es hat mich aber immer auch interessiert, Führungsverantwortung zu übernehmen, die über die Klassenführung hinausgeht. 

Es gibt Lehrer die sagen, die Schule ist ein Schiff, das alle steuern wollen, aber niemand will mehr rudern. Auch Sie haben früher gerudert und sind heute am Steuer.  

(lacht) Tatsächlich war ich früher Ruderer, aber auf dem Wasser! Das ist aber ein falsches Bild. Es braucht beides, Leute an der Basis und im Kader. Die Schlüsselpersonen sind die Lehrerinnen und Lehrer. Aber Menschen bewegen sich eben auch weiter und übernehmen Verantwortung in einer Schulleitung oder einem Erziehungsdepartement, und das finde ich gut. 

Schulverwaltungen wachsen, im Schulzimmer hingegen wird gespart. Klassen werden grösser, Lehrer müssen mehr Stunden geben. In St. Gallen werden kranke Lehrer sogar erst nach drei Tagen vertreten.  

Das bezweifle ich. In meinem Kanton stimmt das jedenfalls nicht. Aber man muss darauf achten, dass die Bildungsverwaltung nicht stärker anwächst.  Das wäre keine gute Entwicklung. 

Renommierte Erziehungswissenschaftler haben ein Memorandum unterschrieben: "Stopp derReformhektik im Bildungswesen! Zu viel Verwaltung geht auf Kosten der Bildung!" Es braucht viel, bis Professoren mit solch deutlichen Worten an die Öffentlichkeit treten.  

Ich freue mich immer, wenn sich Leute engagiert für etwas einsetzen. Ich stelle aber fest, dass sich die Forschung häufig diametral widerspricht. Es gibt zahlreiche Professoren, die finden, die Schule sei gut unterwegs. Auch ich bin dieser Meinung. Im übrigen ist der neue Lehrplan 21 keine Reform, sondern eine konsequente Weiterschreibung der bestehenden Lehrpläne. Und das machen wir nun gemeinsam mit allen 21 Kantonen. 

Aber in verschiedenen Kantonen werden Unterschriften für eine Volksabstimmung gegen den Lehrplan 21 gesammelt. 

Ich bin dagegen, dass das Volk über den Lehrplan entscheidet, dafür sind Fachgremien zuständig. Die Schule verträgt keine polemische Schwarz-Weiss-Mentalität und schon gar nicht das Kochen von politischen Süppchen! 

Früher war der Lehrplan eine Art Leitplanke für den Unterricht, heute umfasst er 470 Seiten und über 2000 Teilkompetenzen. Wenn meine Chefin mir meine Arbeit derart pingelig vorschreiben würde, ich würde den Hut nehmen.  

Ein Lehrplan ist kein Buch, das sie jeden Tag hervornehmen und dann abhaken, was sie erledigt haben. Der Lehrplan ist vielmehr ein Kompass. Aber anders als früher wird nicht nur der Stoff beschrieben, den man durchgenommen hat, sondern die Schüler müssen ihr Wissen konkret anwenden können. 

Einige Lehrer beklagen sich, dass ihnen die Behörden vorschreiben was, wie, wann und wo zu tun ist. 

Die Unterrichtsfreiheit und Methodenfreiheit ist in der Schweiz absolut gewährleistet. Die Lehrpersonen werden weder drangsaliert noch in ein Korsett gezwängt. Fragen sie mal in den Schulen, wie oft die Lehrer überhaupt in einen solchen Lehrplan reinschauen. Das ist ganz selten. 

Aber Herr Amsler, es kann doch nicht Sinn und Zweck eines Lehrplans sein, dass man ihn nicht beachtet. 

Selbstverständlich muss man ihn beachten und ihn von Zeit zu Zeit hervornehmen. 

Abgesehen vom neuen Lehrplan ärgern sich die Lehrerinnen und Lehrer mit denen ich gesprochen habe über die Evaluationsbögen, mit denen sie jedes Kind anhand von Kreuzchen beurteilen müssen. Macht da ein Bericht oder ein Gespräch nicht einfach mehr Sinn? 

Man kann auf der Basis von solchen Bögen wunderbare Gespräche führen. Ich glaube aber wir müssen tatsächlich aufpassen, dass wir nicht alles mit Tests, Checks und Evaluationsbögen hinterlegen. 

Kindergärtnerinnen in verschiedenen Kantonen müssen 72 Antworten zu jedem Kind ankreuzen, unter anderem: "Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig." Eine Kindergärtnerin sagte mir, sie finde es falsch die Kinder auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zu trimmen.  

Das ist eine einzelne Äusserung. Rund um die Diskussion über Beurteilung und Bewertung gibt es viele verschiedene Meinungen. Es stimmt, wirtschaftsnahe Kreise fordern von der Schule, dass man die Kinder genau einordnen kann, andere fordern die Abschaffung der Noten. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. 

Sie finden solche Bewertungsbogen also gut und kindsgerecht? 

Absolut. Ich finde es wichtig, dass man die verschiedenen Aspekte eines Kindes beleuchtet und nicht nur Noten gibt. Auftrittskompetenz, soziale Interaktion und so weiter. Wir haben in Schaffhausen ein förderorientiertes Beurteilungssystem entwickelt, das diverse Kantone übernommen haben. 

Aber nochmal: Die Lehrerin muss beurteilen, ob ein vierjähriges Kind Aufgaben termingerecht und vollständig erledigt. 

Das finde ich sehr gut. 

In diesem Alter können sich einige Kinder noch nicht einmal alleine den Po abwischen. 

(Lacht). Da gehen die Meinungen eben auseinander. Ich finde, dass man ein Kindergartenkind nach verschiedenen Aspekten beurteilen kann. Übrigens können sich auch Kindergartenkinder schon wunderbar selber einschätzen. 

Was geschieht mit all den Blättern? Die werden vermutlich ausgefüllt, ausgewertet und später irgendwo abgespeichert? 

Ja, und das hat auch seine Richtigkeit. Heute kann jede Bagatelle leider zu einem Rechtsfall werden und muss rekursfähig sein. Da müssen Sie als Lehrperson natürlich alles dokumentieren können. Diese administrativen Tätigkeiten sind deshalb sehr wichtig. Früher gab es das weniger, weil die Eltern den Lehrern mehr vertrauten. 

Vertrauen ist ein gutes Stichwort. Manche Lehrer sagen, die Behörden würden ihnen misstrauen, deshalb die vielen Vorschriften. Ein Beispiel unter vielen: Als Lehrer darf man mit den Kindern nicht mehr in die Badi ohne Rettungsschwimmerbrevet. 

Das Badi-Problem ist eben auch entstanden, weil man Rechtsfälle hatte. Es kam zu tragischen Vorfällen und daraus wurde dann eine neue Regel abgeleitet. Merkblätter, Reglemente und Gesetze nehmen eben zu, wenn die Eltern mit dem Rechtsanwalt zu uns kommen. 

Aber es wäre doch genau die Aufgabe der Behörde, dafür zu sorgen, dass die Lehrer unbelastet mit den Kindern in die Berge, ans Wasser oder auf eine Velotour gehen können. Stattdessen verbieten sie auch noch das Schoggistängeli auf der Schulreise. 

Wie gesagt, diese Regeldichte schaue ich als generelles gesellschaftliches Problem an. Sie nimmt tendenziell zu und das ist eine bedenkliche Entwicklung. Ich stimme ihnen zu, die Lehrpersonen brauchen Freiheiten, aber sie müssen sich auch an Regeln halten. Denn als Behörde haben wir auch eine Aufsichtspflicht.  

Interview: Barbara Achermann / Illustration Lisa Rock 

> Direktlink zum Annabelle Interview [Website Annabelle online]

Regierungsrat Christian Amsler (FDP), ist als Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Schaffhausen zuständig für die Bereiche Bildung, Jugend, Familie, Sport und Kultur. Der 51jährige Politiker ist mit einer Lehrerin verheiratet, Vater von 3 Kindern und präsidiert die Erziehungsdirektoren Konferenz der Deutschschweiz (D-EDK). Damit ist er auch Schirmherr des Lehrplans 21. Vor seiner Wahl in den Schaffhauser Regierungsrat im Jahr 2009 war der ausgebildete Pädagoge Gemeindepräsident, Fraktionschef im Kantonsrat und hauptberuflich tätig als Prorektor der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen (PHSH).