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29.05.2015

Keith Jarrett im KKL in Luzern


Genie und Routine

Ende Mai 2015 beehrte Keith Jarrett Luzern mit einem Solo-Rezital. Der siebzigjährige Pianist zeigte dabei typische Facetten seiner vielfältigen Musikalität.

von Ueli Bernays (NZZ) 26.5.2015, 05:30 Uhr

Es ist still, alles schweigt. Der Saal hält förmlich den Atem an. Fast könnte man meinen, hier habe das Publikum Lampenfieber. Auf der in gedämpftes Licht getauchten Bühne indes krümmt sich der Pianist Keith Jarrett endlich über die Klaviatur, damit nun seine Inspiration zur Tat werde auf der Tastatur und sich geistige Schwingungen in musikalischen Vibrationen fortsetzten.

Schon tropft ein erster frischer Ton in Raum und Zeit, ein zweiter folgt geschwind; ein dritter schert rhythmisch aus. Damit diese klingenden Küken jetzt nicht hilflos bleiben, schickt ihnen Meister Jarrett mächtige Akkorde hinterher, die harmonisch Spannung schaffen und musikalisch Sinn. Andrerseits fächern sie sich zu dissonanten, impressionistischen Tableaus, durch die der improvisierende, präludierende Pianist in bohrenden Modulationen einen Weg bahnt. Die rechte und die linke Hand geraten dabei melodisch öfters aneinander, ineinander, übereinander. Doch urplötzlich mündet dieser Wettstreit in einen Ausgang. Klangkaskaden fügen sich zu einer Kadenz, das Stück endet in Terzen. Und es tost Applaus.

Keith Jarrett, vor gut zwei Wochen siebzig geworden, feierte seinen runden Geburtstag mit zwei Konzerten. Nach einem Auftritt am 18. Mai in Neapel kam am Freitagabend auch das Luzerner Publikum im KKL in den Genuss eines dieser kultischen, nachmals oft legendären Solorezitals des berühmten Pianisten. Wie immer sollten Riten und strenge Regeln – Handy ausschalten! Fotografieren verboten! Husten verboten! Atmen verboten? – dafür sorgen, dass der Improvisator Neues und Einmaliges schaffe. Jarrett selber ist wohl nicht ganz unschuldig daran, dass Begriffe wie Innovation und Improvisation im Kontext seiner Musik überstrapaziert, mystifiziert werden. Denn freilich kann er beim Extemporieren auf einen Erfahrungsschatz und ein eigenes Vokabular samt bewährter Spielweisen und Klangbilder zurückgreifen. Sein überraschend heiterer und entspannter Soloauftritt in Luzern bot denn auch Musik, die stets sofort als «typisch Jarrett» erkennbar war.

Der siebzigjährige Amerikaner zeigte sich beim stehenden, feiernden Publikum zuletzt mit zwei, drei Zugaben erkenntlich. Ohnehin gestaltete sich der ganze Abend aber wie eine Reihe von Zugaben. In seinen zwei Sets gab der Pianist sieben bzw. neun Stücke zum Besten – in Stimmung, Tempo, Stil einheitliche Moments musicaux, die sich quasi zu einer Art Best-of-Jarrett fügten. Dabei wechselten sich europäische und amerikanische Tönungen ab. In einer Improvisation mochte sich Jarrett in romantische oder impressionistische Expressivität vertiefen und volksliedartige Themen in freiem Rubato variieren. Doch schon im nächsten flammte der Blues oder der Gospel über regelmässig rollenden oder swingenden Ostinati.

Dabei gab es nun durchaus Passagen, die mehr von Routine als von Genialität geprägt waren. Die Modulationen folgten immer wieder ähnlichen Mustern. Einmal versuchte Jarrett vergeblich, aus einem Glockenmotiv eine eigentliche Melodie herbei zu bimmeln; einmal blieb eine banale Western-Ballade trotz nobilitierenden romantischen Harmonien banal. Aber auch in solchen Momenten verlor der Routinier den Überblick, den Sinn für formale Geschlossenheit nicht. So triumphierte über weite Strecken die Souveränität und Flexibilität des grossen Künstlers, der dabei mit hymnischer Innigkeit so wenig geizte wie mit jazziger Verve (zuletzt etwa im Standard «When I Fall In Love»).

Und doch setzte es den Höhepunkt des Abends just in einer Improvisation, in der Keith Jarrett die Komfortzone des Bewährten verliess und geradezu über sich selbst hinauswuchs. Dieser Moment war dadurch vorbereitet worden, dass die Hände in irrlichternden Linien strickt aus tonalen Zentren wegführten und so praktisch die Karten der Musik neu mischelten. Dann hob Jarrett zu einem phänomenalen Furioso an, in dem sich die rhythmische Impulsivität eines Prokofjews mit dem unbändigen Drive von freiem Jazz vereinte.