Aktuelles / Notizen

09.06.2015

Guter Artikel


zur Bildung von Anja Burri

Gutachten sind keine Lösung

von Anja Burri, Tages-Anzeiger, 9. Juni 2015

Es wird wieder heftig um die Volksschule gestritten. Nur demokratische Entscheide führen aus der unsicheren Pattsituation heraus.

Eigentlich müssten die kantonalen Erziehungsdirektoren in Feierlaune sein. Das überwältigende Ja zum Bildungsartikel in der Bundesverfassung jährt sich bald zum zehnten Mal. Das Stimmvolk sprach sich 2006 mit 86 Prozent für die Angleichung der 26 verschiedenen Bildungssysteme der Kantone aus. Familien und Lehrer sollten endlich problemlos von einem Kanton in den anderen ziehen können.

Der Weg schien frei für die «Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule», kurz Harmos, und für den ersten gemeinsamen Lehrplan. Doch statt den Champagner kühl zu stellen, müssen sich nun viele Erziehungsdirektoren darauf vorbereiten, das Erreichte in neuen Abstimmungskämpfen zu verteidigen. In mehr als der Hälfte der Deutschschweizer Kantone wollen Gegner den Lehrplan 21 oder den Fremdsprachenunterricht in der Primarschule verhindern oder umkrempeln. Beides sind wesentliche Teile der Harmonisierungsbemühungen.

Der Lehrplan ist den Kritikern zu umfangreich, zu ideologisch oder zu wenig auf Schulwissen aufgebaut. Zwei Fremdsprachen in der Primarschule – in der Regel Englisch und Französisch – seien zu anspruchsvoll für Lehrer und Kinder, heisst es. Kommt hinzu, dass in vielen Kantonen das Geld für eine befriedigende Umsetzung der anspruchsvollen Reformen fehlt.

Es geht um Ideologien

Doch das ist nicht alles, wie die Serie #Schulewohin aufgezeigt hat: Die unter Spardruck stehenden Kantone sehen sich auch mit Lohnforderungen der Lehrkräfte und mit Lohnklagen konfrontiert. Und die Integration von Sonderschülern – ebenfalls ein Prestigeprojekt der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz – sorgt in Städten und Agglomerationsgemeinden für Unruhe. Auch dort fehle das Geld für eine angemessene Betreuung, klagen betroffene Eltern und Lehrer.

Kurz: Über die Volksschule wird wieder einmal heftig gestritten. Pädagogische Argumente werden dabei weniger gehört als politische Schlagworte. Es geht um Geld, um Chancengleichheit, um Ideologien. Was die SVP als erste Partei begriff, dämmert nun, im Wahljahr, auch anderen: Kaum ein anderes Thema ist näher bei den Leuten als die Schule. Dort steht die Zukunft der eigenen Kinder auf dem Spiel. Es ist kein Zufall, dass sich die Bürgerlichen nach den Regierungsratswahlen in den Kantonen Baselland und Zürich die Erziehungsdirektionen sicherten.

Die Reformen rückgängig zu machen, kommt für die meisten Bildungsdirektoren kaum infrage. Denn mit der Verankerung des Bildungsartikels in der Verfassung ist die Harmonisierung zur staatspolitischen Frage geworden. Schaffen es die Kantone nicht, den Flickenteppich beim Sprachenunterricht oder bei den Schulstufen zu beseitigen, greift der Bund in ihre Bildungshoheit ein. Innenminister Alain Berset hat es bereits deutlich gesagt: Sollte ein Deutschschweizer Kanton seinen Primarschülern nur noch Englisch beibringen, werde er dies nicht akzeptieren. Die Schonfrist vonseiten des Bundes ist bald abgelaufen: Diesen Sommer müssen die kantonalen Erziehungsdirektoren Bilanz ziehen, ob die angestrebte Harmonisierung gelungen ist.

Sprachen sind der heikle Punkt

Obwohl bis heute von 26 Kantonen nur 15 den Harmos-Beitritt beschlossen haben, dürften verschiedene Vorgaben wie etwa das einheitliche Schul­eintrittsalter erreicht werden. Beim Fremdsprachenunterricht sieht es aber schlecht aus. Der Kanton Thurgau ist bereits dabei, sich von der Fremdsprachenstrategie der Erziehungsdirektoren zu verabschieden: Für Primarschüler soll bald nur noch Englisch obligatorisch sein. Die Erziehungsdirektoren befinden sich in einer ungemütlichen Sandwichposition zwischen den ­Reformgegnern und den in der Verfassung verankerten Verpflichtungen. Dabei mutet es in einem so kleinen Land wie der Schweiz geradezu grotesk an, dass sich die Kantone nicht auf ein einigermassen harmonisiertes Schulsystem einigen können.

In derart verzwickten Lagen kommen wie so oft die Juristen ins Spiel. In St. Gallen oder Graubünden haben die Erziehungsdirektoren respektive das Parlament Volksinitiativen, die nur noch eine statt zwei Fremdsprachen in der Primarschule fordern, für ungültig erklärt. Doch damit ist der Streit nicht erledigt; stattdessen verhärten sich die Fronten. Die Schulkritiker wehren sich mit Beschwerden und alternativen Volksinitiativen. In St. Gallen und Baselland ist es ihnen gelungen, erneute Volksabstimmungen über das Harmos-Konkordat zu erzwingen. Statt echte Lösungen zu suchen, findet hinter den Kulissen ein juristisches Aufrüsten statt; Gegner und Befürworter der Reformen geben bei Rechts­professoren Gutachten in Auftrag.

Das ist gefährlich. Fast zehn Jahre nach der Volksabstimmung über den Bildungsartikel geht es in vielen Deutschschweizer Kantonen wieder um die Ursprungsfrage: Wie viel Harmonisierung brauchen die kantonalen Bildungssysteme? Anstatt sich erneut auf diese Grundsatzdiskussion einzulassen, sollten die Kantone die konkrete Auseinandersetzung mit den Reformgegnern an der Urne wagen. Nur offene Debatten und demokratische Entscheide können die unsichere Pattsituation beenden. Das zeigt das Beispiel Nidwalden: Dort konnten die Stimmbürger kürzlich über die Streichung des Frühfranzösisch abstimmen. Sie haben sich dagegen entschieden – und zwar, weil sie ihren Kanton nicht isolieren wollten.