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19.02.2021

Interview für die «Bildungswerkstatt»


mit Christian Amsler II/2021

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Interview mit Christian Amsler für die «Bildungswerkstatt» / Ausgabe II/2021, Seite 26 

Thema Digitalisierung

Was ist für Sie digitales Lernen, was Digitalisierung?

Die Digitalisierung schreitet in Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt rasant voran. Im Rahmen des Lehrplans 21 wollten wir deshalb, dass der Umgang mit Technologie und Medien integraler Bestandteil der kantonalen Lehrpläne wird. Damit übermitteln wir Schülerinnen und Schülern früh selbstständiges und verantwortungsbewusstes Handeln und fördern mit digitalem Lernen lösungsorientiertes Denken. So wurde im Rahmen des Lehrplans 21 neu auch ein Modullehrplan für Medien und Informatik geschaffen. Je nach Kanton wird dieser als eigenes Fach oder integriert in andere Fächer angeboten. Staaten wie Indien oder die USA haben längst angefangen, Schülerinnen und Schülern im frühen Alter den Umgang mit Medien und Informatik beizubringen. Damit positionieren sich diese Länder für die Zukunft günstig. Will die Schweiz den Anschluss nicht verpassen, müssen wir diesem Beispiel folgen. Eine kürzlich erfolgte Studie zu digitalen Lehr- und Lernumgebungen kommt zum Ergebnis, dass bereits viele Vorzeigeprojekte, wirkungsvolle Partnerschaften und engagierte Lehrpersonen beispielhaft vorangehen. Vielfach fehlen aber noch die nötigen Ressourcen finanzieller und personeller Art. Es gibt noch (zu) grosse Unterschiede im Ausprägungsgrad bei den verschiedenen Schulen. Auch ein leistungsfähiges Internet ist an einigen Schulen noch nicht verfügbar und die Ausrüstung der Schülerinnen und Schüler mit den nötigen Geräten ungenügend. 

Wie wichtig ist digitales Lernen für den Unterricht in der Grundschule?

Sehr wichtig, weil Schule die Lebensrealität abzubilden hat. Und digitales Lernen ist Realität! Im Lehrplan 21 haben wir darum in den Kompetenzbereichen Medien und Informatik insgesamt sieben Kompetenzen formuliert. Diese sind als «Kernkompetenzen» zu verstehen, die mit den Schülerinnen und Schülern in eigenen thematischen Unterrichtssequenzen aufgebaut werden. Die «Anwendungskompetenzen» hingegen werden mehrheitlich in den anderen Fachbereichen vermittelt. 

Wo sehen Sie die grössten «Baustellen» bezüglich Digitalisierung in den Schulen?

Es braucht ein einheitliches Verständnis und eine gleiche Sprache. Noch verstehen zu viele unterschiedliche Dinge rund um das digitale Lernen. Und noch sind die Unterschiede gross in der Auffassung, wieviel Digitalisierung das Klassenzimmer verträgt. Schule hat mit Menschen zu tun und nicht mit Maschinen. Trotzdem kann man sich im digitalen Klassenzimmer vorstellen, dass in Zukunft die Primarschüler die Ansätze der Programmiersprachen wie das ABC erlernen. Darüber streiten sich aber die Fachleute. Es gibt bereits heute Software, mit der sich Kinder spielerisch der Programmiersprache annähern können. Wandtafeln wurden durch Smartboards ersetzt. Die Lehrerin kann auf ihrem Tablet in Echtzeit kontrollieren, welches Kind die Antworten in einem Test richtig beantwortet und welches nicht. Eltern wissen dank dem digitalen Klassenbuch, was ihre Kinder in einer Unterrichtsstunde behandelt haben und welche Hausaufgaben aufgegeben wurden. Luft nach oben ist also noch vorhanden. Aber alles mit dem nötigen Mass und pädagogisch verträglich! 

Alle sprechen von Digitalisierung in den Schulen, welche Aufgaben muss die Politik übernehmen?

Sie muss grundsätzlich gute Rahmenbedingungen schaffen. Die pädagogische Umsetzung des Lehrplans zu Medien und Informatik soll sie den Fachleuten des Lernens überlassen. Die Gefahr ist gross, dass man meint, mit einer wunderbaren Ausstattung mit IT Mitteln sei alles getan. Weit gefehlt! 

Lehrplan 21

Wie beurteilen Sie den derzeitigen Stand der Umsetzung?

Ich bin stolz auf die konzentrierte Umsetzung in den Kantonen. Dies alles ging reibungslos über die Bühne. Mittlerweile haben alle Kantone den Lehrplan 21 eingeführt. Beeindruckend auch, wie viele tolle «Nebenprodukte» zum Lehrplan 21 entstanden sind. Auf das Schuljahr 2020/21 wurde der neue Aargauer Lehrplan Volksschule eingeführt. Grundlage dazu bildet der Deutschschweizer Lehrplan. Mit der Einführung des Aargauer Lehrplans Volksschule wird nun in allen 21 Deutschschweizer Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein nach dem Lehrplan 21 unterrichtet. Die Webseite www.lehrplan21.ch gibt übrigens einen guten Überblick über den Einführungsstatus in den Kantonen. 

Was war die grösste Herausforderung bei der Erarbeitung des neuen Lehrplans?

Wie so oft im Leben die stark divergierenden Ansprüche von verschiedensten Seiten. Die intensive politische Debatte dazu im ganzen Land empfand ich als sehr wichtig, anstrengend, anregend und aber auch für unser Demokratieland Schweiz nötig. Der Lehrplan 21 wurde zum willkommenen Tummelfeld von Verschwörungstheoretikern, Interessengruppierungen und diversen illustren und weniger illustren Vereinigungen! Das hat sich aber mittlerweile beruhigt – der Lehrplan 21 ist angekommen und etabliert. Und das freut mich! 

Wann hat die Schweiz ein einheitliches Schulsystem (Stichwort «Bildung ist Sache der Kantone»)?

Das wird ein langer Weg sein! Und die Frage stellt sich natürlich auch, ob man dies überhaupt so will in unserem Land. Gerade unser föderalistisches Bildungssystem hat unser Land stark gemacht. Es wäre ein Graus, ein uniformes, zentral und diktatorisch gesteuertes Schulsystem in unserem Land zu haben. Aber zugegeben, es gab und gibt immer wieder Situationen, wo ich mir persönlich eine stärkere, zentrale Führung gewünscht hatte, gerade jetzt in der Coronakrise. Die Kantone und mit ihr die Erziehungsdirektorenkonferenz EDK haben immer auf die kantonale Schulhoheit gepocht, und wir sind in der Summe damit gut gefahren. 

Braucht es auf nationaler Ebene mehr Bildungspolitiker, die auch als solche wahrgenommen werden?

In jedem Fall! Bildung darf nicht nur ein Thema vor den Wahlen sein. Obwohl die Schulbildung in der Hoheit der Kantone ist, braucht es auch Fürsprecher auf nationaler Ebene in National- und Ständerat. Gerade bei den Parteien stelle ich immer wieder fest, dass sie mit grossem Brimborium bildungspolitische Themen bearbeiten, wenn es wahltaktisch gerade gut in den Kram passt. Fairerweise muss man aber sagen, dass es durchaus einzelne Politikerinnen und Politiker aus den nationalen Parlamenten gibt, die sich Bildungsthemen glaubwürdig auf die Fahne geschrieben haben. 

Ist das schweizerische Bildungssystem den zukünftigen Anforderungen gewachsen, braucht es Reformen?

Die Schule tut gut daran, sich stetig zu reformieren. Stillstand bedeutet Rückschritt. Es gibt ja das Bonmot «Wir sind Schüler von heute, die in Schulen von gestern, von Lehrern von vorgestern, mit Methoden aus dem Mittelalter auf die Probleme von übermorgen vorbereitet werden». Das ist natürlich nicht im Sinne des Erfinders! Ich finde schon, dass die Schule sich in einem guten Reformprozess befindet. Schule ist auch Hort der Stabilität in bewegten Zeiten. So gesehen bin ich froh, dass die Schule als Supertanker unterwegs ist und nicht als kleines Schifflein, dass bei jeder Sturmwelle gleich ins Schlingern kommt. Gute, bewährte pädagogische Grundprinzipien lassen sich zum Glück nicht einfach durch gesellschaftliche Unwägsamkeiten über den Haufen werfen. Den Dialog aller an Schule Beteiligten und der Verantwortungsträger in Politik und Behörde, was Schule sein soll und zu leisten hat, braucht es immer. 

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Aktuelle Lage in den Schulen

Die Corona-Krise ist noch nicht vorbei, bis Frühsommer muss wohl mit weiteren einschränkenden Massnahmen gerechnet werden, welche auch die Schulen treffen könnten. Welche Probleme sehen Sie da auf die Schulen, Lehrpersonen und Eltern zukommen?

Corona ist eine aktuelle Dauerherausforderung für die Schule und wird (leider) nicht so schnell verschwinden. Ich stelle fest, dass es nicht richtig oder falsch gibt, nicht schwarz oder weiss. Wir stecken in einer sehr anspruchsvollen Situation, wo es sich die Behörden mit ihren Entscheiden immer auch gleich etwa mit der Hälfte der Menschen verscherzen. Die Kritik prasselt dann jeweils über die Entscheidungsträger in Bundesrat, Regierungen, Schulbehörden und Schulleitungen herein. Was ist richtig, was ist falsch rund um Corona? Die Meinungen laufen meist diametral 180 Grad auseinander. In jedem Fall wird Corona weiterhin eine grosse Belastung für das System bleiben. Die weiteren Wellen haben die Schweiz voll getroffen. Hauptziel bleibt die Eindämmung der weiteren Ausbreitung, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und vor allem eine Überlastung des Gesundheitswesens abzuwenden. Es hat mich nicht verwundert, dass nun auch die Schulen vermehrt in den Fokus gerieten. In der Erziehungsdirektorenkonferenz EDK waren wir uns einig: Einen schulischen Lockdown wollten wir tunlichst vermeiden. Wir müssen die Schäden so klein wie möglich halten: die gesundheitlichen Schäden, die wirtschaftlichen Schäden und die gesellschaftlichen Schäden. Gerade auch für unsere Kinder und Jugendlichen! Der Schutz der Gesundheit und der Wirtschaft stehen nicht im Widerspruch zueinander. Im Gegenteil. Je schneller wir das Virus in den Griff kriegen, desto weniger leidet die Wirtschaft.

Die Schule wollen die Behörden immer als Hort der Sicherheit und Normalität möglichst lange aufrecht halten. Andere Länder um uns herum greifen zum Teil zu viel drastischeren Massnahmen. Die Schweiz schlägt einen eigenen, differenzierteren Weg ein. Wir haben viel gelernt von der ersten Welle im Frühjahr. Das müssen wir nun anwenden. Wir sind uns bewusst: Die Massnahmen sind einschneidend und greifen stark in die individuelle Freiheit und in die Wirtschaftsfreiheit ein.

Eines ist sicher: Diese Pandemie wird weltweit grosse wirtschaftliche, gesundheitliche und gesellschaftliche Schäden hinterlassen. Wir wollen sie in allen Bereichen so klein wie möglich halten. Ich bleibe aber zuversichtlich: Die Schweiz hat einen gesunden Finanzhaushalt, eines der besten Gesundheitswesen der Welt und eine Bevölkerung mit dem nötigen Gemeinsinn, um diese Krise zu meistern. 

Wo sehen Sie generell die grössten Herausforderungen für die Lehrpersonen in der heutigen Zeit? Wie kann und muss die Politik den Lehrpersonen hier unter die Arme greifen?

Für mich waren und sind die Lehrerinnen und Lehrer stets sehr wichtige Stützen der Gesellschaft. Die Politik und die Gesellschaft tut gut daran, den Pädagoginnen und Pädagogen Sorge zu tragen und ihnen mehr Wertschätzung entgegen zu bringen. In meinen letzten Worten an die Adresse der Studierenden der Pädagogischen Hochschule habe ich gesagt, dass ich mir wünsche, dass sie auf ein unterstützendes, wertschätzendes schulisches Umfeld treffen mögen. Sie haben sich für den wunderbaren Beruf des Lernens entschieden. Das ist eigentlich eine Vorgabe fürs ganze Leben. Lebenslanges Lernen ist Programm, ja eine Grundeinstellung und gilt gerade im von Lehrerinnen und Lehrern gewählten Beruf. Im Klassenzimmer gehen jeden Tag Menschen mit ganz verschiedenen Persönlichkeiten und Schuhgrössen aufeinander zu und schaffen damit einen eigentlichen Beziehungsraum. Die Lehrerin, der Lehrer nimmt in diesem Beziehungsraum die Führung und die Verantwortung wahr und definiert Regeln, Grenzen und Freiräume – sie bestimmen unter Berücksichtigung der einzelnen ihr anvertrauten Kinder und der schulischen Vorgaben, welcher Raum von wem und wie geöffnet, eingenommen, geschaffen werden kann.

Dabei ist der Respekt vor dem Raum des anderen Menschen – der Kinder und ihrer Eltern - von grosser Wichtigkeit. Lehrerinnen und Lehrer anerkennen die Vielfalt und die Unterschiede in den Voraussetzungen, Erwartungen und Ansprüchen bei den Lernenden. Sie sind offen und bereit, die Lern- und Entwicklungsräume aller Kinder kennen zu lernen, ihnen Raum zu geben und mit ihnen in einen pädagogischen Austausch zu treten. Das ist eine grosse Herausforderung.

Und die Ansprüche rund ums Lernsetting nehmen generell zu. Gerade mit der Coronakrise ist für die Lehrpersonen das individuelle Lernen vermehrt in den Vordergrund gerückt. Die Bedürfnisse der einzelnen Schülerinnen und Schüler in ihrem jeweiligen Umfeld stellen neue Herausforderungen. Manche können zu Hause nur analog lernen und brauchen Lernpakete per Post. Andere werden bei der Nutzung digitaler Lernplattformen begleitet. Bei manchen Jugendlichen und Kindern besteht eine starke Unterstützung der Erziehungsberechtigten. Bei anderen können Sprachbarrieren das Lernen zuhause erschweren. All dies müssen die Lehrkräfte vermehrt berücksichtigen. Damit die Schule diese schöne, aber auch anspruchsvolle Arbeit gut machen kann, muss die Politik den grosszügigen Rahmen dazu schaffen. 

Was ist Ihr grösster Wunsch für die Zukunft des schweizerischen Schulsystems?

Dass die Schulen zusammenarbeiten, gemeinsam für Werte und Stabilität sorgen und aber auch agil und neugierig bleiben auf die Welt da draussen. Die Welt bewegt sich rasant und mit Corona Covid-19 ist eine ganz neue Dimension dazugekommen. Die Schulen sollen ein Fenster zur Welt öffnen und sich nicht einkapseln und zurückziehen. Die Schule muss sich mit aller Kraft um die jungen Menschen kümmern und Ihnen Halt, Zuversicht und Kompetenz für das anspruchsvolle Leben geben. Eine herausfordernde, strenge, aber auch schöne Aufgabe und das pädagogische Grundcredo!  

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Christian Amsler (57) war bis Ende 2020 als Regierungsrat und Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Schaffhausen zuständig für die Bereiche Bildung, Jugend, Familie, Sport, Kultur und Aussenbeziehungen. Der erfahrene Bildungspolitiker ist mit einer Lehrerin verheiratet, Vater von 3 Kindern, stolzer Grossvater einer Enkelin und präsidierte bis Ende 2016 die Erziehungsdirektoren Konferenz der Deutschschweiz (D-EDK). Damit war er auch Schirmherr des Lehrplans 21. Vor seiner Wahl in den Schaffhauser Regierungsrat im Jahr 2009 war der ausgebildete Pädagoge und Schulleiter Gemeindepräsident, Fraktionschef im Kantonsrat und hauptberuflich tätig als Prorektor der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen (PHSH). 2014 und 2018 war er Regierungspräsident und stand 2018 der Internationalen Bodenseekonferenz IBK vor. Aktuell schreibt Christian Amsler ein Buch über Bildung & Schule und amtet als Stiftungsratspräsident der Milton Ray Hartmann Stiftung zur Förderung der Kultur-, Dokumentar- und Unterrichtsmedien sowie als Stiftungsrat der Stiftung Dialog Campus Demokratie. Zudem ist er Verwaltungsrat von educa Schweiz, Schweizer Medieninstitut für Bildung und Kultur.

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